Freitag, 7. September 2012

Ein weitgehend vergessenes Industriedenkmal

Das Stammheimer Bahnhöfle ist eine technikgeschichtlich durchaus interessante Anlage. Foto: Martin Hechinger
Stuttgart-Stammheim - Um in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wenigstens einigen Menschen Lohn und Brot zu verschaffen, schrieb die Regierung Notstandarbeiten aus: mit öffentlichem Geld geförderte Infrastrukturmaßnahmen. Eine davon kam dem damaligen Arbeiter- und Bauernort zugute – eine Güterbahn vom Kornwestheimer Rangierbahnhof bis zum Nordostrand Stammheims. So wollte man die Chancen für Industrieansiedlungen verbessern. Teil des Projekts war ein kleiner Güterbahnhof an der Kornwestheimer Straße mit zweigeschossigem Hauptgebäude und einstöckigen Anbauten. Am 1. Oktober 1920 wurde die Anlage eröffnet.
Anlässlich des 75. Geburtstages des Bahnhofs haben Alfred Motzer und Walter Kunz vieles aus seiner Geschichte in einem Artikel zusammengefasst. Der wichtigste Benutzer der Verladestelle war die 1923 hier angesiedelte Chemiefabrik von Paul Lechler, die ein eigenes Abzweiggleis besaß. „In Kesselwagen kamen die Materialien und Rückstände aus der Teer- und Erdölverarbeitung hier an und wurden zu Inertol und Karbolineum verarbeitet.“ Diese Produkte dienten als Schutzanstriche für Holz und Beton. Auf der Schiene gingen sie dann in alle Welt. Übrigens: Eine Nachfolgefirma von Lechler, Sika, besteht nach wie vor an diesem Standort. Weiterhin, so nehmen Motzer und Kunz an, seien „Blechwaren der Firma Köpfer, Sicherungen der Firma Jung und Polierscheiben der Firma Seitz“, also die Erzeugnisse der hiesigen Kleinindustrie, verladen worden.
1972 schloss die Verladestation für immer
Auch die Landwirtschaft und das Kleingewerbe Stammheims wickelten wesentliche Teile ihres Güterverkehrs über diese Bahn ab. Saatgut, Dünge- und Futtermittel, Mostobst, aber auch Schlachttiere und Fleisch wurden angeliefert. Im Gegenzug verließen die hier angebauten Zuckerrüben und Zichorien, der Grundstoff für Kaffee-Ersatz, waggonweise den Ort per Schiene. „Butter und Käse aus dem Allgäu bezog die Spezerei der Frau Kromer übers Bahnhöfle“. Zudem kam das Material für die hiesigen Bauhandwerker, Steine, Holz und die anderen Werkstoffe, kostengünstig hier an.
Ende der 1920er Jahre gab es gar Pläne, die „Güterstelle“ zu einer „richtigen“ Bahnstation auszubauen, doch die wurden nie verwirklicht. Als nach dem Zweiten Weltkrieg das Güteraufkommen am Bahnhöfle wegen der zunehmenden Motorisierung zurückging, wurde ein Teil der Fläche als Lagerplatz für einen Altmetallhandel verpachtet. Am 1. Oktober 1972 schloss dann die Verladestation für immer. Der Schrotthandelsbetrieb weitete sich aus, unter anderen Besitzern bestand er bis ins Jahr 2009.
Heutzutage steht das Gebäude, das einer Bahntochter gehört, offenbar leer. Ein offizielles Schild weist den Bereich nach wie vor als „Bahnanlage“ aus. Von der Straße aus verwehrt üppiges Grün, von der Rückseite her ein übermannshoher Zaun den Einblick. Trotzdem kann es keinen Zweifel daran geben, dass es sich beim Stammheimer Bahnhöfle um ein beachtliches, weithin einmaliges Industriedenkmal handelt, das allerdings nicht durch Eintrag in die Liste unter Schutz gestellt ist. Dieser Bereich Stammheims ist nicht gerade reich gesegnet mit Baudenkmälern. Umso mehr könnte die technikgeschichtlich interessante Anlage – ordentlich renoviert, zugänglich gemacht und pfiffig umgenutzt – als wichtige Landmarke am Eingang zum Ort zu einer Attraktion werden. Ob das Gebäude bald den Weg auf die Tagesordnung der Lokalpolitik findet?

Quelle:  stuttgarter-nachrichten

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